Folge 9 unserer Serie:
Hans Scherenberg war ein visionärer Konstrukteur und Manager - Zurückhaltender Vordenker
PIONIERE DER ZEIT 100 JAHRE DAIMLERCHRYSLER-WERK UNTERTÜRKHEIM
Stuttgart - Das DaimlerChrysler-Werk Untertürkheim feiert 100-jähriges Bestehen. Es ist die Wiege des Automobils. Bahnbrechende Erfindungen von Gottlieb Daimler, Karl Benz und Wilhelm Maybach verhalfen dem Auto zum weltweiten Siegeszug. In der Folgezeit entwickelten geniale Tüftler und Konstrukteure der Marke Mercedes-Benz epochale Neuerungen. Diese Pioniere der Zeit stellen wir vor.
Heute: Hans Scherenberg
Von Mathias Kuhn - Untertürkheimer Zeitung vom 16.9.2004
Mitarbeiter, die Hans Scherenberg erleben durften, schwärmen noch heute von ihm als feinfühligen, äußerst kompetenten Chef. Der hagere, groß gewachsene Mann war eine respektierte Persönlichkeit. Etliche richtungsweisende Innovationen wie die Benzineinspritzung oder das Antiblockiersystem (ABS) hat er mitentwickelt. Zudem tragen die Mercedes-Modelle der 60er und Anfang 70er Jahre seine Handschrift. Den Titel "Herr Mercedes" lehnte der Vordenker auf seine zurückhaltende Art ab: "Ich habe mitgearbeitet", so schrieb er seine Pionierleistungen seiner Mannschaft zu.
Geboren wurde Scherenberg 1910 in Dresden, zog 1919 nach Heidelberg. Schon früh zeigte sich sein Interesse, Dinge auseinander und wieder zusammenzubauen. Das Diplom-Ingenieursstudium in Stuttgart und Karlsruhe war somit vorgegeben. 1935 trat Scherenberg in den Versuch für Personenkraftwagen bei Daimler-Benz in Untertürkheim ein. Als Oberingenieur und enger Mitarbeiter von Fritz Nallinger wurde Scherenberg 1943 Gesamtleiter des Flugmotoren-Prüffeldes und stellvertretender Versuchsleiter. Der Krieg unterbrach die Entwicklungsarbeiten. 1946 trat er in das Ingenieursbüro Adolf Schnürle ein und wird 1948 von der Firma Gutbrod in Plochingen als technischer Direktor eingestellt. In der kleinen aufstrebenden Firma konnte der vielseitige Ingenieur seine Talente ausleben: Bei Gutbrod lernte er nicht nur das Konstruieren, sondern auch kalkulieren und war zugleich für die Planung und den Einkauf verantwortlich. Erfahrungen, die ihm später als Daimler-Vorstand zugute kamen. Die Plochinger Firma präsentierte 1950 das Ergebnis von Scherenbergs Planungen: den Gutbrod Superior, der Welt erster Serienwagen mit Benzineinspritzung.
Natürlich hatte Nallinger, als sein Mentor, den Werdegang Scherenbergs verfolgt. Der Daimler-Benz-Vorstand holte seinen Schützling 1952 als Konstruktionschef für Personenwagen wieder nach Untertürkheim. In diese Zeit fallen nicht nur die Erfolge der Mercedes-Benz Rennsportwagen, sondern weitere richtungsweisende Meilensteine der Automobilgeschichte. So meldet er 1953 ein Patent "zum Verhindern des Blockierens der Fahrzeugräder beim Bremsen" an - Grundgedanken, die 1978 zum digitalgesteuerten heute üblichen ABS führen. Er entwickelte die Eingelenkpendelachse und machte sich Gedanken zur "Dampfblasenvermeidung im Kraftstoffsystem". Unter seiner Obhut ereignete sich zudem die Abkehr von den Rahmenfahrzeugen. Die neue Pontonbauweise mit Rahmenbodenanlage läutete eine neue Entwicklung ein. Umso schwerer fiel ihm sein Abschied von der Entwicklungsabteilung Personenkraftwagen. 1956 wurde er stellvertretendes Vorstandsmitglied mit der Aufgabe, die Großmotoren wieder aufzubauen. Die erste 300-PS-Nutzfahrzeug-Gasturbine wurde in dieser Zeit entwickelt. Seine Talente als Konstrukteur, Techniker, Manager und Motivator seiner Mitarbeiter konnte er letztendlich voll entfalten, als er 1965 zum Ordentlichen Vorstandsmitglied für die Entwicklung und Forschung berufen wurde.
Weichen für Daimler-Benz gelegt
Bereits 1970 beschäftigte er sich mit der Abgasreinigung. Seiner Zeit weit voraus war der Visionär auch in Fragen der passiven Sicherheit, was sich in den Experimentier-Sicherheitsfahrzeugen und dem rollenden Labor ausdrückten. Legendär sind auch das Wankel-Model C 111 und seine Turbodiesel-Rekordversion. Sie sind die Aufsehen erregenden Produkte eines Mannes, der mit seiner ruhigen, beharrlichen Art wichtige Weichen für Daimler-Benz gelegt hat. Mehrere erfolgreiche Baureihen wie 1972 die neue S-Klasse und die neuen SL- und SLC-Typen tragen seine Handschrift. Durch seine faire, feine Menschenführung verstand es Scherenberg, seine Mannschaft stets neu zu motivieren. 1977 ging er in Pension. Wenige Tage nach dem 90. Geburtstag starb der Sillenbucher am 17. November 2000.