Stuttgarter Zeitung, 13.08.1996
Stuttgarts Stadtoberhäupter im
Wandel der Zeit
Heinrich von Sick: 1862 erlebte Stuttgart die erste
OB-Wahl moderneren Zuschnitts. Sechs Kandidaten stellten sich, aber
nur alteingesessene Bürger durften wählen. Der 39-jährige
Oberjustizrat gewann mit 4259 Stimmen, obwohl die Stadt damals mehrere
zehntausend Einwohner hatte. 1872 wurde er Innenminister und verließ das
Rathaus. Später wurde er geadelt; Sick starb 1881.
Im April 1862 erlebte Stuttgart seine erste Oberbürgermeisterwahl modernen Zuschnitts. An Männern, die dieses wichtige und honorige Amt übernehmen wollten, mangelte es offenkundig nicht - es gab ein regelrechtes Gedränge.
Am Wahltag erhielt Reichskonsulent Hölder 3032 Stimmen, Finanzrat Gustav Zeller 2929 Stimmen.
Für den Rechtskonsulenten Karl Römer stimmten 2064 Bürger, für den Prokurator C. G. Nestle 1926 und für Stadtrat Friedrich Brodhag 1237. Den Sieg jedoch trug der 39jährige Oberjustizrat Heinrich Sick davon, der es auf stattliche 4259 Stimmen gebracht hatte.
Sick, am 9. März 1822 geboren, war der Sohn eines angesehenen Silberschmieds und Stadtrats, studierter Jurist, Stadtrichter in Stuttgart seit 1857.
Heinrich Sick wurde am 10. Mai 1862 förmlich ernannt und am 12. Juni in seinem neuen Amt vereidigt. Der König verlieh ihm bald darauf den Titel "Oberbürgermeister" - später wurde er mit Orden und Auszeichnungen geradezu überhäuft. Sick machte "schwer Karriere", wie man heute sagt.
Von 1868 bis 1872 saß er auch für Stuttgart im Landtag - in diesem Punkt unterschied er sich nicht von seinen Vorgängern. In einem aber wohl: Am 16. Mai 1872 wurde er zum Innenminister berufen, gab sein kommunales Amt nach nur zehn Jahren wieder ab, wurde danach vom König geadelt - und starb am 13. Oktober 1881.
Über die Amtszeit des Oberbürgermeisters von Sick schildert die Stadtchronik Erstaunliches:
"Kampf gegen die aus der Gemeindeordnung begründete Überlastung des Stadtschultheißen mit nebensächlichen Geschäften", so lautete eine seiner Parolen. Kein Zweifel, dieser Kampf dauert bis heute an - und ist keineswegs gewonnen. Heinrich von Sick gilt aber auch als Schöpfer des neuen und erweiterten Stadtbauplanes. Er beteiligte sich aber auch maßgeblich an der Reorganisation des Volksschulwesens in den Jahren 1864/66.
Und er stärkte das öffentliche städtische Bauwesen:
Umbau des Rathauses,
Mittelschule für Mädchen,
Überwölbung des Nesenbaches,
Neubau des Armenhauses und
Reform des Armenwesens.
In Sicks Amtszeit fällt die Eröffnung der Pferdebahn von und nach Berg im Jahr 1868.
Schon 1862 war die Gewerbefreiheit eingeführt worden.
Der Bahnhof wurde erweitert,
und König Wilhelm stiftete 1863 die berühmte Markthalle an der Dorotheenstraße.
1864 entstand die alte Liederhalle,
1866 gründete Eduard von Pfeiffer seinen "Verein zum Wohl der arbeitenden Klassen", und bei der Landtagswahl von 1868, der ersten mit "allgemeinem und direktem Wahlrecht", hatte Oberbürgermeister von Sick keinen Gegenkandidaten. 1871 hat Stuttgart eine "ortsanwesende Bevölkerung" von nicht weniger als 91.623 Menschen. Und die Stadtchronik berichtet: "Das Vertrauen auf das siegreich erkämpfte Reich gegen Frankreich steigert Unternehmungslust und Handelsbewegung."
Im Rückblick wird klar: Dieser Heinrich von Sick war ein Stadtoberhaupt des Übergangs. Er war buchstäblich zu Höherem berufen; eine Amtszeit von nur zehn Jahren war im 19. Jahrhundert viel zu kurz, um Wesentliches zu verändern oder auf den Weg zu bringen. Außerdem herrschten politisch schwierige Zeiten: Seit 1859 hatte man den Krieg mit dem "Erbfeind" Frankreich befürchtet oder auch erwartet, je nach Standpunkt. In Stuttgart wie anderswo herrschte in diesen Jahren Armut und Inflation. tom