Am 11. April 1945 wurde das KZ bei Weimar befreit:
Die Geschichte des Überlebens von Stefan Jerzy Zweig
von Ulrich Weinzierl
Stefan Jerzy Zweig
Man stelle sich vor: Im August 1944 wird ein dreieinhalbjähriger Junge an der Hand seines Vaters in das KZ Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar eingeliefert. Die Eltern, der Krakauer Rechtsanwalt Dr. Zacharias Zweig und seine Ehefrau Helena, hatten ihm den Namen Stefan Jerzy (Georg) gegeben.
Ein Akt der Rebellion gegen die Besatzer. Er sollte die Verbundenheit mit Polen und dem vom NS-Regime verfemten Autor Stefan Zweig demonstrieren, der bald darauf im brasilianischen Exil Selbstmord verübte. Stefan Jerzy hat schon das Krakauer Ghetto, die Lager Biezanow, Plaszow und Skarzysko-Kamienna und schließlich den Transport in Viehwaggons nach Buchenwald durchgemacht - und überstanden. Das Kind erhält die Häftlingsnummer 67509. Seine Personalkarte vermerkt unter anderem blondes Haar und eine Körpergröße von 97 cm. Der amtliche Grund für die Einweisung: "Polit Pole Jude". Möglicherweise die Eigenmächtigkeit eines Häftlings aus der Schreibstube, der die blutige KZ-Absurdität zu verhöhnen versuchte: Ein nicht einmal Vierjähriger als politischer Delinquent!
So etwas ist in Buchenwald bis dato jedenfalls nicht vorgekommen. Deutsche Kommunisten, allesamt "Arier", insbesondere der später als sozialdemokratischer Gewerkschaftsführer bundesweit bekannte Willi Bleicher und Robert Siewert, die "Vaterfigur aller Buchwälder", nehmen den Jungen unter den Augen der SS in ihre Obhut. Plötzlich hat er viele Väter. Stefan Jerzy, der Jüngste im KZ, muß unbedingt gerettet werden, er ist das Symbol des Überlebenswillens der Gemeinschaft. Es gelingt. Am 11. April 1945 erreichen US-Truppen Buchenwald, die Gefangenen sind frei. Stefan Jerzy und sein Vater verlassen als letzte, erst im Sommer 1945, das Lager, weil Dr. Zweig aufgrund seiner perfekten Zweisprachigkeit im "Internationalen Häftlingskomitee" als Übersetzer von Lebensläufen der ehemals Inhaftierten beschäftigt wird. Das Angebot, in die USA auszuwandern, lehnt Zacharias Zweig ab. Er will zuvor Gewißheit über das Schicksal seiner Nächsten haben - seiner Frau und seiner Tochter Sylwja - und kehrt nach Polen zurück. Dort erfährt er, daß sie, neben vielen anderen Verwandten, tot sind. Ermordet in Auschwitz. Drei seiner vier Brüder (Leon, Heinrich, Jakob) haben überlebt - in der Sowjetunion. Ignaz, der älteste, war als verwundeter Soldat im Ersten Weltkrieg in russische Gefangenschaft geraten, heiratete eine Krankenschwester und blieb im Lande. Der Lehrer und Schuldirektor ist 1936 dem stalinistischen Terror zum Opfer gefallen. Die übrigen Geschwister sind im September 1939, bei Hitlers Überfall auf Polen, ahnungslos in die UdSSR geflohen - und landeten im Archipel Gulag.
Bruno Apitz (l.) mit Stefan Jerzy Zweig
Photographie
Buchenwald, 1964
DHM, Berlin
F 66/1192
Zacharias Zweig wird von den Alliierten ein Einreisevisum nach Palästina erteilt, doch er läßt sich mit seinem Sohn in Südfrankreich nieder, wo seine Schwägerin wohnt. Stefan Jerzy ist an Lungentuberkulose erkrankt. Insgesamt drei Jahre verbringt der Bub - in Polen, in Grenoble und Menton - in Sanatorien. 1949 besteigen die beiden in Marseille das Schiff, das sie in ihre neue Heimat bringt: nach Israel. Dr. Zweig darf seinen Advokatenberuf nicht ausüben und wird Beamter des Finanzministeriums. Stefan Jerzy absolviert das Gymnasium und leistet seinen Militärdienst.
Inzwischen geschieht in Europa, was sein künftiges Leben entscheidend, sogar fatal beeinflussen wird. 1958 erscheint in der DDR der Roman "Nackt unter Wölfen" des einstigen Buchenwald-Häftlings Bruno Apitz. Ein nationaler Besteller mit Millionenauflage, und ein internationaler in zwei Dutzend Übersetzungen. Der Schriftsteller Apitz hat Stefan Jerzy Zweigs Rettung in sehr verfremdeter Form erzählt. Er hatte im KZ den Jungen nicht gekannt, lediglich von ihm gehört. Aus den Buchenwald-Akten hätte sich für den Romancier ein Faktengerüst ergeben, offenkundig hielt sich Apitz nicht daran. Denn in der epischen Fiktion ist Stefan Jerzys Vater tot, ein Pole, "Zacharias Jankowski", schmuggelt das Kind in einem Koffer ins Lager, wo es bis zuletzt versteckt wird. Zum Schluß taucht "das schreiende Bündel" wieder auf, in einer Apotheose vom Ende der KZ-Maschinerie: "Einer Nußschale gleich schaukelte das Kind über den wogenden Köpfen. Im Gestau quirlte es durch die Enge des Tores, und dann riß es der Strom auf seinen befreiten Wellen mit sich dahin, der nicht mehr zu halten war."
Romane sind in der Regel keine Tatsachenberichte, das macht ihr Wesen aus und konstituiert künstlerische Freiheit. Um die aber war es bekanntlich in der DDR schlecht bestellt. "Nackt unter Wölfen" entsprach den ideologischen Richtlinien der SED: Die Amerikaner werden in Zusammenhang mit der Buchenwald-Befreiung nicht einmal erwähnt.
Von all dem ahnen Vater und Sohn Zweig in Israel nicht das geringste. Sie wissen auch nicht, daß der Roman von der DEFA - mit Armin Müller-Stahl - verfilmt wird. Dr. Zweig hat mittlerweile, jeweils nach den Dienststunden, die authentische Geschichte von Stefan Jerzys Rettung für die Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem zu Papier gebracht, wobei er vor allem die Rolle Willi Bleichers würdigt - eine "Liebeserklärung", sagt der Gerettete heute. Diese Aufzeichnungen erscheinen postum, 1987, in einem kleinen Frankfurter Verlag.
Erst 1963 fanden DDR-Journalisten eine Spur von und zu Zacharias Zweig. Stefan Jerzy, der in Lyon studiert, liest - vom Vater informiert - "Nackt unter Wölfen" auf Französisch. Die Entdeckung des "Buchenwald-Kinds" ist naturgemäß ein Medienereignis, auch und gerade in der DDR. Es kommt zu Treffen mit Willi Bleicher, der 1967 auf dem Jerusalemer Zionsberg einen Baum auf der "Straße der Gerechten unter den Völkern" pflanzen wird, für welche Ehrung sich Zacharias Zweig immer eingesetzt hat. 1964 beginnt Stefan Jerzy Zweig, längst israelischer Staatsbürger, an der Filmhochschule Babelsberg seine Ausbildung zum Kameramann. Hinter der Übersiedlung nach Ost-Berlin steckt geheime Absicht: Nur aufgrund der Bekanntheit des "Buchenwald-Kinds" konnte dessen Onkel, der Philologe Heinrich (Henry) Zweig, Schwiegersohn des 1937 auf Stalins Geheiß erschossenen russischen Revolutionärs Leonid Serebriakov, zum 15jährigen Gründungsjubiläum der Deutschen Demokratischen Republik aus Moskau nach Berlin reisen. Die Begegnung der Brüder Zacharias und Heinrich Zweig nach einem Vierteljahrhundert verläuft indes unerwartet enttäuschend. Henry, völlig verängstigt und augenscheinlich einer Gehirnwäsche unterzogen, weist jeglichen Gedanken an eine Niederlassung in Israel weit von sich, empfiehlt statt dessen, sich den Kommunisten anzuschließen, und besteigt den Zug zurück in die Sowjetunion.
Stefan Jerzy Zweig heiratet in der DDR, wo auch sein erster Sohn geboren wird. Im Januar 1972 gelangt er gemeinsam mit Frau und Kind - letztere nur infolge einer Intervention von Robert Siewert - nach Österreich. Bis zu seiner Rente ist er als Kameramann für den ORF tätig.
Was denkt und fühlt Stefan Jerzy Zweig 60 Jahre nach seiner Befreiung in Buchenwald? Erinnerungen an den KZ-Aufenthalt kann und will er nicht preisgeben, weil im frühkindlichen Alter Erlebtes von nachträglich Gelesenem und Erzähltem kaum zu trennen ist. Höchstens "Blitze" sind in seinem Kopf gespeichert, wie wenn man aus einem Sack heraus kurz das Licht erblickt. Das erste bewußte Gedächtnisbild zeigt ihn nach der Befreiung. Zwei amerikanische Soldaten führen das Kind durch den "Bunker", den weiland KZ-Arrest. In einer Zelle steht da ein SS-Mann, genau an jener Stelle, auf der jahrelang Nazi-Gefangene stehen mußten, den Henkerstrick um den Hals, und salutiert vor den Soldaten. In der letzten Zelle ist dann ein Mann, der Stefan Jerzy umarmt und unter Tränen küßt. Wer es war, weiß Stefan Zweig bis heute nicht.
Dafür weiß er anderes. Seit dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung werden kommunistische Buchenwald-Häftlinge, darunter seine Retter, pauschal als "Stalinisten" diffamiert. Und dagegen wehrt er sich. Am 11. April 2005 möchte er in einem Hotel am Toten Meer sein Buch "Tränen allein genügen nicht" präsentieren, das er im Eigenverlag publiziert (www.stefanjzweig.com).
Man stelle sich vor: 2003 veröffentlichte Hans Joachim Schädlich den politischen Roman "Anders" über deutsche Vergangenheitsfälscher und Opportunisten. Ein Erzählstrang behandelt, mit vollem Namen, das Schicksal von Stefan Jerzy Zweig in Buchenwald, parallel geschaltet mit dem des SS-Hauptsturmführers Hans Ernst Schneider, der als Germanist Hans Schwerte in der Bundesrepublik Universitätskarriere machte. Schädlich bemühte sich redlich, die antifaschistische "Legende" vom "Buchenwald-Kind" zu entlarven, indem er Apitz' romanhafte Darstellung durch die realistische von Zacharias Zweig und die Ergebnisse historischer Forschung zu korrigieren trachtet. Gewiß, Stefan Jerzy Zweig hat Buchenwald auch überlebt, weil sein Name auf den Deportationslisten nach Auschwitz gestrichen und durch denjenigen eines 16jährigen Romani ersetzt wurde. Die Preisfrage lautet nun: Wer trägt Schuld am Tod des Zigeunerjungen? Der vierjährige Stefan Jerzy Zweig, wie im Buch implizit angedeutet und von fast sämtlichen Rezensenten des Bandes bekräftigt wird? Seine Retter oder vielleicht doch das nazistische Vernichtungssystem und dessen Gehilfen und Schergen, die unerbittlich die Erfüllung der Leichenquote "unwerten Lebens" forderten? Die Antwort auf solch obszöne Frage sollte auf der Hand liegen.
Foto Stefan Jerzy Zweig und Artikel erschienen am Sa, 9. April 2005
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