Von Hermann G. Abmayr
Heute vor hundert Jahren ist Willi Bleicher in Cannstatt
geboren worden. Der Gewerkschafter war zugleich pragmatischer Verhandlungsführer
wie den Idealen des Sozialismus verpflichtet. Seine Hoffnungen im Nachkriegsdeutschland
galten einer anderen, besseren Welt. Unser Autor hat bereits eine Biografie über
den Arbeiterführer geschrieben. Nun ist er bei Recherchen für
seinen neuen Film über Bleicher auf unbekannte Dokumente in früheren
DDR-Archiven gestoßen.
„Es kommt nicht darauf an, ob wir in dieser Welt leben, viel wesentlicher
ist es, dass wir diese Welt lebenswerter gestalten", sagt Willi Bleicher.
Und dann hebt er seinen rechten Zeigefinger und wiederholt langsam die
Worte „lebenswerter" - Pause - „gestalten". Das war 1980,
als der 73-Jährige vor überwiegend jungen Leuten über
seine Zeit im Konzentrationslager Buchenwald berichtete - ein Jahr vor
seinem Tod.
Als Daimler die Arbeiter nach einem Streik 1920 aussperrt, wissen Willi
Bleichers Eltern nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Die
Mutter geht ins Pfandhaus, der dreizehnjährige Willi klaut Obst
für die Familie und Klee für die Stallhasen. Diese Erfahrungen
haben mit zu Bleichers Politisierung beigetragen. Er träumt von
einer Welt ohne Hunger, Arbeitslosigkeit und Willkür, schließt
sich der kommunistischen Jugend und der Gewerkschaft an. Zunächst übrigens
der Gewerkschaft der Nahrungs- und Genussmittelarbeiter, denn Bleicher
war gelernter Bäcker, auch wenn bis heute die Legende verbreitet
wird, er habe bei Daimler eine Schlosserlehre gemacht.
1963 steht die Metallindustrie im Südwesten vor dem bis dahin heftigsten
Arbeitskampf der jungen Bundesrepublik. Willi Bleicher, inzwischen Leiter
der IG Metall Baden-Württemberg, erinnert sich an die Aussperrung
23 Jahre zuvor. Er zögert, denn für ihn sind Streiks das letzte
Mittel im Arbeitskampf: „Ich wusste, was Streik bedeutet", erzählt
er später. „Streik bedeutet zuweilen Verlust des Arbeitsplatzes,
Streik bedeutet Bangigkeit und das unentwegte Fragen. Was wird am Ende
des Streiks stehen? Bevor ich dieses Wort aussprach, habe ich mich deshalb
immer in Hunderten von Versammlungen und Zusammenkünften vergewissert,
ob wir es wagen können."
Als Bleicher dem Verband der Metallindustrie dann tatsächlich mit
einem Streik droht, wird er öffentlich wegen seiner kommunistischen
Vergangenheit angegriffen. Kein Wort darüber, dass ihn die SS im
Lager fürchterlich behandelte, dass er Folter und auch einen Todesmarsch
im April 1945 beinahe nicht überlebt hätte.
Es herrscht Kalter Krieg in Deutschland. Wer Kommunist war oder ist,
kann überwacht werden (auch für Bleicher interessiert sich
der Verfassungsschutz), er kann seinen Arbeitsplatz verlieren oder wegen
Verstoßes gegen das Verbot der kommunistischen Partei zu einer
Gefängnisstrafe verurteilt werden. Über die Taten der Nazis
wird dagegen geschwiegen. Viele haben wieder Karriere gemacht. Einer
davon sitzt Willi Bleicher bei den Tarifverhandlungen gegenüber:
Hanns-Martin Schleyer. „Sie waren beide durch Gottes Zorn oder
durch menschliches Schicksal gezwungen, miteinander auszukommen und Kompromisse
zu schließen." So Franz Steinkühler, Bleichers langjährige „rechte
Hand" in der Stuttgarter Bezirksleitung.
Beide, Bleicher wie Schleyer, pflegen einen autoritären
Stil
Dabei haben Bleicher und Schleyer auch Gemeinsamkeiten: Beide wollen „ihren
Laden" im Griff haben, beide pflegen einen zum Teil extrem autoritären
Führungsstil, und beide zeigen sich nach außen als harte Kämpfer,
was Schleyer zum Inbegriff des „bösen Kapitalisten" macht.
Doch die beiden Raucher können auch warmherzig sein und Nettigkeiten
austauschen. Wenn Schleyer zu Bleicher zum Vieraugengespräch kommt,
lässt das ehemalige SS-Opfer dem ehemaligen SS-Offizier eine Schachtel „Simon
Arzt Orient" bereitstellen, Schleyers Zigarettenmarke. Und obwohl der
Gewerkschafter seine Tarifkontrahenten schrecklich attackieren kann,
lehnt er es immer ab, Schleyers Vergangenheit im Arbeitskampf auszuschlachten.
Hanns-Martin Schleyer war ein „in der Wolle gefärbter Nazi" (Edzard
Reuter) und überzeugter Antisemit. In der NS-Zeit arbeitete er zuletzt
als Leiter des Präsidialbüros des Zentralverbands der Industrie
im besetzten Prag. Der Verband war unter anderem für die Arisierung
der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Arbeitkräften
für Nazideutschland zuständig. Nach dem Krieg ist Schleyer
zwar mehrere Jahre interniert, doch seine Vergangenheit interessiert
in der Zeit des Wirtschaftsaufswunders nur wenige. Er selbst fühlt
sich als Opfer der „Siegerjustiz" und schweigt.
Weil sich die alten Machtstrukturen nicht geändert hätten,
will sich Willi Bleicher mit dem Nachkriegsdeutschland unter Adenauer
nie anfreunden. Er traut der jungen Republik nicht, denn in den Betrieben
haben meist wieder die alten Eigentümer das Sagen. Sie und ihre
Manager macht Bleicher für das Erstarken des Hitlerfaschismus mitverantwortlich.
Er kritisiert die alten NS-Seilschaf-ten, die wieder an wichtigen Positionen
sitzen. Hanns-Martin Schleyer ist mit der Nachkriegsrepublik aus anderen
Gründen nicht einverstanden. Er beklagt die mangelnde unternehmerische
Freiheit und sieht noch in den siebziger Jahren in der Mitbestimmung
ein kommunistisches Machwerk. „Unternehmen heilst Führen",
das ist seine Maxime. Schleyer selbst zählt sich zur Führungselite.
Dies will er Anfang der sechziger Jahre endlich unter Beweis stellen.
Nach der Lohnrunde 1962 bereitet Schleyer den Verband der Metallindustrie
systematisch auf eine Aussperrung vor. Das ist damals keine Selbstverständlichkeit.
Viele Unternehmer zögern. Sie wollen das Betriebsklima nicht vergiften
oder fürchten, Arbeitskräfte zu verlieren, die bei der herrschenden
Vollbeschäftigung nicht leicht ersetzt werden können. Schon
zwei Tage nach Streikbeginn werden alle Arbeiter in Betrieben mit über
hundert Beschäftigten ausgesperrt. Bleicher ist empört: „Der
Dr. Schleyer hat recht, wenn er von einer Totalaussperrung spricht. Es
ist ein totaler Krieg gegen die Metaller dieses Landes. Er ist so erbarmungslos
wie jener, den diese Herren verloren haben."
Ergebnis: der „General-Hinauswurf", so der „Spiegel" damals,
habe „das Nachkriegskapitel leichter Gewerkschaftssiege" beendet.
Schleyer, den die Presse zu den „zornigen jungen Männern in
den Arbeitgeberverbänden" zählt, wird bundesweit zum Hoffnungsträger
im Unternehmerlager. Die Hauptaktionäre von Daimler belohnen ihn,
indem sie aus dem stellvertretenden ein ordentliches Vorstandsmitglied
machen. Und Willi Bleicher steigt zum „wohl härtesten und
radikalsten Funktionär der IG Metall" auf. Dazu adelt ihn die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung".
Doch weder in der Öffentlichkeit, noch in der Gewerkschaft selbst
sind Bleichers KZ-Jahre bekannt. Nach seinen schlechten Erfahrungen in
der Nachkriegszeit lehnt er es ab, über diese Zeit zu sprechen.
Damals habe man ihm nicht geglaubt, als er über den Terror im Lager
berichtet hat, einige hätten sogar gelacht. Zudem will sich Bleicher
nicht mit den alten Erinnerungen quälen. Die nächtlichen Albträume
sind schlimm genug.
In der Öffentlichkeit spielt die KZ-Vergangenheit
keine Rolle
Und es gibt noch ein politisches Kalkül. Bleicher wurde ins KZ
gesteckt, weil er ein kommunistischer Widerstandskämpfer war. In
der jungen Bundesrepublik gilt er deshalb allenfalls als Nazigegner dritter
Klasse. Selbst in der IG Metall führt seine kommunistische Gesinnung
dazu, dass er 1950 aus dem Vorstand hinausgedrängt wird.
Kurz
nach dem Streik 1963 rückt die KZ-Vergangenheit des Metallers
erstmals ins Licht der Öffentlichkeit. Er wird als Retter des „Kindes
von Buchenwald" bekannt. Der DDR-Autor Bruno Apitz, selbst langjähriger
Häftling, hat die Geschichte in dem Roman „Nackt unter Wölfen" verarbeitet.
Eine fiktive Handlung, wie man damals meint, in der Häftlinge ein
dreijähriges Kind vor der SS verstecken und so vor dem Tode bewahren.
Der Regisseur Frank Beyer verfilmt den Stoff 1963 für die Defa.
Armin Müller-Stahl spielt den Kapo der Effektenkammer, jene Funktion,
die Willi Bleicher in Buchenwald innehatte. Ohne Bleicher wäre das
Kind jüdischer Eltern aus Krakau im KZ „nackt unter Wölfen" geblieben
und hätte kaum überlebt. Das ist der wahre Kern des Romans.
Als Bleicher erfährt, dass man Zweigs Adresse gefunden hat, lädt
er das inzwischen 22-jährige „Kind von Buchenwald" ein. Über
die Begegnung in Stuttgart und die Geschichte der Rettung berichten die
Medien im In- und Ausland. Bleichers kommunistische Vergangenheit wird
von nun an in der öffentlichen Diskussion keine große Rolle
mehr spielen.
Schleyer kommt Bleichers Vergangenheit nun sogar gelegen. In den sechziger
Jahren, vor seinem ersten Prag-Besuch nach 1945, erklärt er, wenn
ihm dort wegen seiner einstigen Arbeit im besetzten Prag etwas zustoße,
möge man „den Bleicher" anrufen. Der würde ihn rausholen über
seine Kontakte zu früheren KZ-Häftlingen in inzwischen wichtigen
Staatsfunktionen. Das klingt nach verkehrter Welt, doch sowohl Schleyers
Sohn Hanns-Eberhard, der seinen Vater in die damalige Tschechoslowakei
begleitet hat, als auch Heinz Dürr, Schleyers Nachfolger als Verhandlungsführer
der Metallarbeitgeber im Tarifbezirk, bestätigen dies.
Willi Bleicher fährt Anfang 1964 mit Stefan Jerzy Zweig nach Buchenwald.
Keine Selbstverständlichkeit zweieinhalb Jahre nach dem Bau der
Mauer in Berlin. Der Stuttgarter Bezirksleiter ist (noch) vorsichtig;
Er will die Reise vom IG-Metall-Vorstand absegnen lassen. Denn zu gut
weiß er, dass man sie gegen ihn verwenden könnte. Doch der
Vorsitzende Otto Brenner hält einen Beschluss nicht für erforderlich
und erklärt seine ausdrückliche Zustimmung.
Bleicher nutzt die Reise zu Gesprächen mit ehemaligen Häftlingen
aus Buchenwald und mit Funktionären der DDR-Gewerkschaften. Mindestens
ein Gesprächsprotokoll landet auf dem Schreibtisch von Staatschef
Walter Ulbricht. Die Machthaber in der DDR trauen dem widerspenstigen
Marxisten nicht. Auf einer bislang unbekannten Karteikarte der Stasi
wird vermerkt, dass Bleicher eine „trotzkistische Anschauung" vertrete.
Trotzki war neben Lenin der wichtigste Führer der russischen Oktoberrevolution.
Stalin ließ dessen Anhänger blutig verfolgen und Trotzki 1940
im mexikanischen Exil ermorden. Ebenfalls vermerkt in der Akte ist Bleichers
Mitgliedschaft in der KPO. Wie die Trotzkisten galt die KP-Opposition
als verräterische Gruppierung. Der junge Bleicher hatte sich zusammen
mit anderen Stuttgarter Kommunisten Ende der zwanziger Jahre der KPO
angeschlossen, die die von Moskau diktierte Politik nicht mitmachen wollte.
Trotzdem tritt Bleicher 1945 der KPD erneut bei. Aber er verlässt
sie vier Jahre später wieder, da er ihren Kurs nicht mittragen will
und da er als KP-Mann für sich keine Zukunft in der IG Metall sieht.
Die Partei beschimpft ihn als Verräter. Bleicher bekennt sich dennoch
weiterhin zum Marxismus. Vier Jahr später wird er, um seinen Aufstieg
in der
Gewerkschaft nicht zu gefährden, SPD-Mitglied. Er hofft weiter,
dass die DDR eines Tages vielleicht doch noch das bessere Deutschland
werden könnte. Bei seinen Besuchen im „Arbeiter- und Bauernstaat" kritisiert
er mit markigen Worten den Schlendrian in den Betrieben. Parolen wie „Gemeinsam
für den Sozialismus" oder „Wir machen eine Sonderschicht" lehnt
er ab, da er sich nicht vorstellen könne, dass die Arbeiter „diesen
Quatsch" glaubten. Er fordert echte „Arbeiterdemokratie", wie es
in dem Protokoll heißt, das Ulbricht vorgelegt wird.
Franz Steinkühler, der 1972 Bleichers Nachfolger in der IG-Metall-Bezirksleitung
wird, hat mit seinem Förderer mehrmals die DDR bereist. Sein Eindruck: „Bleicher
hatte immer so ein Funken Hoffnung, dass da doch noch das zu finden sei,
was er sein Leben lang gesucht hat, Gerechtigkeit, Sozialismus." Doch
irgendwann habe auch Bleicher gespürt, „dass er vergeblich
sucht".
Franz Steinkühler und Willi Bleicher in den 1950er Jahren
Beseelt vom Glauben, dass der Faschismus nicht alles sein kann
Sozialismus war für Bleicher mehr als eine Parole. Als pragmatischer
Gewerkschafter trug er zwar dazu bei, den sozialen und demokratischen
Charakter der Bundesrepublik zu stärken, doch seine Hoffnung auf
eine „andere Welt" versperrte ihm zugleich den Blick auf diese
Erfolge. Schließlich half ihm sein linker Gegenglaube beim Überleben
im KZ. In Buchenwald war er sich sicher gewesen, dass nur „der
Sozialismus der Ausweg sei aus der Periode der Barbarei" sei, „eine
andere Welt, die die Freiheit des Menschen garantiere". Diese Hoffnung
habe ihn „bestärkt und beseelt". Und dazu sei der Glaube
gekommen, „dass der Faschismus nicht der Sinn dieser Welt sein
könne". Das mag übertrieben, ja religiös klingen, doch ähnliche
Schilderungen sind von anderen politischen Häftlingen überliefert.
Insofern war Bleicher ein „frommer Kommunist".
Willi Bleicher wollte eine Welt schaffen, die den Rückfall in eine
faschistische Barbarei unmöglich machte. Denn er war überzeugt
davon, „dass wir unter denselben Verhältnissen und Umständen
wie während der Nazidiktatur Menschen zuhauf finden würden,
die zu jeder Schandtat fähig und bereit sind". Nur der Humanismus
könne „für uns alle miteinander Richtschnur sein", erklärte
er vor den jungen Leuten ein Jahr vor seinem Tod 1981. Im Sozialismus,
so der Gewerkschafter weiter, sei „der Begriff des Humanismus am
sichtbarsten umschlossen - oder es ist eben kein Sozialismus".
■ Hermann G. Abmayrs Film „Wer nicht kämpft, hat schon
verloren" über Willi Bleicher wird am Sonntag, den 28. Oktober
2007, um 11 Uhr im Stuttgarter Theaterhaus erstmals gezeigt. Mit dabei
sind Zeitzeugen wie Stefan Jerzy Zweig und Franz Steinkühler.