Menschenkette 1983:
Protest gegen die
Pershing-Raketen
ALFRED WIEDEMANN - Alb-Bote vom 6.8.2004
Von Neu-Ulm bis Stuttgart reichte 1983 die
Menschenkette der Friedensbewegung über die Schwäbische Alb.
Die Protestierer von damals schwärmen bis heute von der
friedlichen Großdemonstration. Das Stuttgarter Haus der
Geschichte zeigt eine Ausstellung - und fragt nach.
"Was gilt die Wette? Wir schließen die Kette!"
Das war an jenem Samstag im Oktober 1983 die Parole der
Friedensprotestierer. Die Demonstration steht im Mittelpunkt
der Schau "Zerreißprobe Frieden" im Stuttgarter Haus der
Geschichte. Die Ausstellungsmacher locken die Teilnehmer von
damals bis zum kommenden Sonntag mit freiem Eintritt. Als
Belege fürs "Ich war dabei" gelten nicht nur aufbewahrte Fotos
oder Fahrkarten, sondern auch Erzählungen. Bernd Holtwick,
wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums, hat so schon viele
Geschichten zu hören bekommen - und aufgezeichnet: "Berichte
der Zeitzeugen sind genauso wichtig wie Objekte von früher."
250 000 Menschen gingen am 22. Oktober 1983 auf
die Straßen zwischen Neu-Ulm und Stuttgart, Hand in Hand wurde
an dem sonnigen und kalten Samstag auf 108 Kilometern gegen
die Stationierung der Pershing-II-Raketen im Land protestiert.
Die Teilnehmer, die jetzt ihre Erlebnisse erzählen, blicken
alle positiv zurück. "Dass die Kette geschlossen wurde, das
war einfach ein Riesenerfolg." Dass so viele dabei waren,
alles friedlich blieb bis auf ein paar Rangeleien mit der
Polizei, das sei bis heute präsent und den Leuten wichtig, hat
Holtwick erfahren. Mit Kind und Kegel pilgerte man zur Demo.
Familie Winkler aus Stuttgart reihte sich mit ihrem drei Jahre
alten Sohn in Untertürkheim ein. Jetzt brachte sie ein Foto
mit der Familie bei der Menschenkette ins Haus der Geschichte
mit - und auch den erwachsenen Filius.
Der
Freundin wegen dabei
Fröhlich seis gewesen,
berichteten alle, "eine charmante Aktion". "Nur wegen seiner
damaligen Dame" habe er mitgemacht, erzählt einer, eigentlich
sei er ja 1983 in der Jungen Union gewesen. Nicht typisch
wahrscheinlich, die meisten trieb die Angst vor dem Atomkrieg,
der Wunsch nach Frieden. Zeitschriften vom Ereignis bringen
die Leute mit, auch eines der Bänder, die dazu dienen sollten,
Lücken in der Kette zu schließen. Gebraucht wurden sie nicht,
es kamen ja genug Leute. Aufgehoben wurde das Band trotzdem
bis heute.
Die tolle Stimmung wurde kaum getrübt
durch die Zerrissenheit im Land vor 21 Jahren. Viele waren
ganz anderer Meinung als die Friedensbewegten, befürworteten
die Raketen als sicheren Schutzschirm gegen die Russen. Und
Demonstrationen waren im Schwäbischen auch nicht alltäglich.
"Das tut man nicht", die Meinung war weitverbreitet.
Protestierer haben das zu spüren bekommen. In einem Dorf bei
Albstadt seien "Türen und Fenster verrammelt gewesen", die
braven Bewohner erwarteten Steinewerfer wie im Fernsehen.
Wenig beruhigend, bekam Holtwick zu hören, seien auch
Demo-Ordner gewesen. Der Motorradklub "Kuhle Wampe" hatte das
in einem Abschnitt übernommen. In zünftiger Kradfahrermontur
natürlich. <BR> <BR>Gruppenerlebnis, fröhlicher Treff -
das zählt bis heute, nicht die Fruchtlosigkeit des Protests:
Der Bundestag stimmte Wochen nach dem Massenprotest für die
Stationierung, die Pershing-Sprengköpfe kamen. "Aber die
Menschenkette hat gestanden, das zählt" - noch immer, in der
Erinnerung. Auch Polizisten, die damals im Einsatz waren,
kamen schon vorbei und erzählten Holtwick vom Einsatz. Das
Misstrauen sei groß gewesen, Arbeitspensum und Aufwand
ebenfalls. Riesig sei dann die Erleichterung gewesen, als es
friedlich blieb.
"Erstaunlich, wie präsent die
Menschenkette noch ist", meint Holtwick (36). Nicht nur in den
Köpfen, auch auf Dachböden und in Schubladen. Beim Sammeln der
Schaustücke war das nützlich. Viel Hilfe kam von der
Friedenshütte in Mutlangen, am früheren Raketenstützpunkt.
Schwieriger habe sich das Sammeln bei der "Gegenseite"
gestaltet, bei der Polizei, den US-Soldaten. Die vielen
Zeitzeugnisse sind noch bis 3. Oktober zu bestaunen.
INFO
Die
Sonderausstellung Zerreißprobe Frieden - Baden-Württemberg und
der Nato-Doppelbeschluss im Haus der Geschichte in Stuttgart
(Konrad-Adenauer-Str. 16) ist täglich - außer montags - von 10
bis 18 Uhr geöffnet, donnerstags bis 21 Uhr. Bis kommenden
Sonntag haben Beteiligte an der Menschenkette von 1983 freien
Eintritt: Demonstranten, ausdrücklich aber auch Polizisten,
Sanitäter oder Stadt- und Dorfbewohner, die die Demonstration
hautnah verfolgten.
Bild: Friedensdemonstranten auf der Alb.
An der Menschenkette im Oktober 1983 beteiligten sich
schätzungsweise 250 000 Leute.
FOTO: MANFRED
GROHE