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Die Menschenkette von Stuttgart nach Ulm vor 20 Jahren
Stuttgarter Zeitung vom 22.10.2003

108 Kilometer - mehr war möglich

Vor 20 Jahren, am 22. Oktober 1983, haben sich hunderttausende bei den Händen genommen und eine Menschenkette von Stuttgart nach Ulm gebildet. Gegen die atomare Aufrüstung, für den Frieden. Jetzt haben sich die Organisatoren von damals auf der Strecke wieder getroffen.

Von Christopher Ziedler

Kalt ist es, richtig ungemütlich. Und so eine Verkehrsinsel ist ja auch nicht unbedingt der Ort, an dem üblicherweise Geschichten ausgetauscht werden. Trotzdem lässt die kleine Gruppe eine Ampelphase nach der anderen verstreichen, diskutiert und schaut immer wieder beinahe andächtig auf den nassen Asphalt der Inselstraße im Stuttgarter Stadtteil Untertürkheim - für die Anwesenden nahezu heiliger Boden. "Wer war eigentlich für diesen Streckenabschnitt zuständig?" fragt plötzlich einer. Schulterzucken. Dann taucht der Name doch wieder aus der Erinnerung auf. "Hast du den mal wieder gesehen?" "Ja, ist aber auch schon 15 Jahre her." Gelächter auf der Verkehrsinsel. "Gleich da vorne", rekapituliert schließlich der 42-jährige Stefan Philipp und zeigt die Straße entlang, "ist die Menschenkette auf die B 10 abgebogen."

Überhaupt diese Bundesstraße 10. Der Brauereichef Gottfried Härle aus Leutkirch schafft es noch heute, ohne nachzudenken ihren Streckenverlauf zwischen Ulm und Stuttgart herunterzubeten: "Dornstadt, Lonsee, Urspring, Amstetten, Geislingen, Kuchen, Gingen, Süßen . . ." Die anderen sind beeindruckt, er ist irgendwie genervt: "Ich habe noch jahrelang von dieser Straße geträumt." Der Karlsruher Sonderschullehrer Ulli Thiel horcht noch immer auf, wenn sie im Verkehrsfunk erwähnt wird, was oft vorkommt. Erst gerade wieder auf der Herfahrt zu diesem Treffen, auf Höhe von Reichenbach an der Fils, wo er einst gestanden ist, waren Bäume umgestürzt. "Das hätte uns damals nicht passieren dürfen", meint Thiel.

Ist es auch nicht. Für das Organisationsteam um Thiel, Härle und Philipp ist alles glatt gelaufen an jenem 22. Oktober 1983. Sie haben damals ein beeindruckendes Sinnbild für Frieden im Kalten Krieg geschaffen; die Bilder der 108 Kilometer langen menschlichen Verbindung vom European Command der US-Army in Stuttgart-Vaihingen zu den atomar bestückten Wiley Barracks in Neu-Ulm gingen um die Welt. Und wenn heute gesagt wird, dass der teure Rüstungswettlauf die marode Sowjetunion in die Knie gezwungen habe, zitiert Ulli Thiel gerne Michail Gorbatschow, der stets betont habe, dass Europas Friedensbewegung viel für die Überwindung des westlichen Feindbildes getan und sich indirekt um Perestroika und Glasnost verdient gemacht habe.

Ulli Thiel war es, der damals die Idee mit der Menschenkette hatte und sie auf einer Aktionskonferenz in Ulm im Juni 1983 durchsetzte, obwohl radikale Grüne und Autonome nur in Neu-Ulm blockieren und die Kommunisten nur in Stuttgart groß demonstrieren wollten. "Wie ein Löwenbändiger bist du da aufgetreten", erinnert sich Thiels Frau Sonnhild. Sie weckte danach den Ehrgeiz der Linken, indem sie, in den Anfangsjahren einer Fernsehshow namens "Wetten, dass . . .", einen in schönstem Sponti-Deutsch gehaltenen Spruch kreierte: "Was gilt die Wette, wir schaffen die Kette". Der machte die Menschenkette zum Selbstläufer, die schließlich nicht nur Stuttgart und Ulm, sondern auch die politischen Strömungen der Friedensbewegung miteinander verband.

Die bunten Spruchbänder von einem Meter Länge, die der 59-jährige Ulli Thiel plötzlich aus seiner Tasche hervorzaubert, sind Ausdruck für die bis zuletzt vorhandene Sorge, dass es nicht klappen könnte. Damit sollte die Kette im Fall einer menschenleeren Schwäbischen Alb gestreckt werden. "Wir haben 25 000 davon bestellt", platzt es aus dem 49-jährigen Gottfried Härle heraus. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, weil die Menschen am Ende sogar in Schlangenlinien stehen mussten. Härle, als Student der Volkswirtschaft damals Cheflogistiker des Aktionsbüros, hatte trotzdem an alles gedacht.

LHS StuttgartZu tun gab es reichlich für ihn: Er musste jedem Streckensektor Frie- densfreunde aus Südhessen, der Pfalz, Franken oder Ober- bayern zuteilen, Sonder- züge bestellen, die als Lückenfüller bereitstehende Motorradgang "Kuhle Wampe" dirigieren und für den Informationsfluss von der Strecke sorgen. "Das war die größte Herausforderung, es gab ja weder Handy noch Fax damals", sagt Härle heute. "Schließlich haben wir alle Telefonzellen in den 25 Orten entlang der Strecke besetzt gehalten." Nicht zuletzt galt es Absprachen mit der Polizei und mit Innenminister Roman Herzog zu treffen und den mehr als skeptischen Kultusminister und VfB-Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder davon zu überzeugen, das für jenen Samstag angesetzte Spiel gegen die Münchner Bayern erst um 17 Uhr anpfeifen zu lassen. Härle gewann den Streit - und der VfB mit eins zu null.

Jetzt wird es der Gruppe - trotz aller wärmenden Erinnerung - denn doch zu kalt. Thiel und Härle steuern eine Kneipe an. Beide haben sich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen - und sie haben sich politisch auseinander entwickelt. Hier ist der Friedensaktivist Thiel, der noch immer seinen Rauschebart trägt, den szenetypischen VW-Bus fährt und auch gegen die Kriege im Kosovo und im Irak auf die Straße gegangen ist. Dort der Grünen-Stadtrat Härle, der im Leutkircher Familienbetrieb aus regionalen Produkten Bier brauen lässt und den radikalen Pazifismus heute in Frage stellt. "Es gab Srebrenica", sagt er und fragt, was man denn anderes hätte tun sollen, als Belgrad zu bombardieren. "Es war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg", beharrt Thiel.

Sie werden beim Bier noch viel zu bereden haben. Eines aber haben sie schon ganz fest vereinbart: Am 22. Oktober des Jahres 2033 wollen sie gemeinsam noch einmal die ganze Strecke abfahren. Und dann wollen sie in jedem Ort zwischen Stuttgart und Ulm fragen, wer sich eigentlich noch an diese Menschenkette vor 50 Jahren erinnern kann - an ihre Menschenkette.


  • 22.10.1983: Protest gegen US-Atomraketen

    Gegen die Stationierung von US-amerikanischen Atomraketen in der Bundesrepublik Deutschland bildeten Bürger eine Menschenkette von Stuttgart bis Neu-Ulm. In Bonn versammelten sich etwa 300.000 Menschen zu einer Großkundgebung. Insgesamt nahmen 1,3 Millionen Menschen an den Protesten teil. Trotzdem stimmte der Bundestag am 22. November der Stationierung von Pershing-Raketen und Marschflugkörpern zu. Vergeblich blockierten Mitglieder der Friedensbewegung - darunter viele Prominente - monatelang das US-amerikanische Raketenlager in Mutlangen in Baden-Württemberg. Einen Tag nach dem Beschluss zur Stationierung brach die Sowjetunion die Genfer Friedensgespräche ab.

  • Dokumentation über die Menschenkette

Die Dokumentation über die Menschenkette hält dieses Ereignis in vielen Bilderung (u.a. sehr viele Luftaufnahmen), Berichten, Zeitungsartikeln fest. Der 152-seitige Band (DIN A4) ist damit für alle, die bei diesem “historischen Ereignis” (ARD) dabei waren, eine schöne Erinnerung. Für alle, die nicht dabei sein konnten, stellt das Buch einen kleinen Ersatz für diesen unvergesslichen Tag dar. Die Dokumentation kostet 4,00 € (+ 1,00 € Versandkosten).

Bestelladresse: PAZIFIX-Materialvertrieb, Alberichstr. 9, 76185 Karlsruhe, Tel. 0721-552270, Fax -558622, eMail: pazifix@dfg-vk.de

GESCHICHTE / Ausstellung rückt Friedensbewegung in den Mittelpunkt
Hand in Hand über die Alb

Menschenkette 1983: Protest gegen die Pershing-Raketen

ALFRED WIEDEMANN - Alb-Bote vom 6.8.2004

Von Neu-Ulm bis Stuttgart reichte 1983 die Menschenkette der Friedensbewegung über die Schwäbische Alb. Die Protestierer von damals schwärmen bis heute von der friedlichen Großdemonstration. Das Stuttgarter Haus der Geschichte zeigt eine Ausstellung - und fragt nach.

"Was gilt die Wette? Wir schließen die Kette!"

Das war an jenem Samstag im Oktober 1983 die Parole der Friedensprotestierer. Die Demonstration steht im Mittelpunkt der Schau "Zerreißprobe Frieden" im Stuttgarter Haus der Geschichte. Die Ausstellungsmacher locken die Teilnehmer von damals bis zum kommenden Sonntag mit freiem Eintritt. Als Belege fürs "Ich war dabei" gelten nicht nur aufbewahrte Fotos oder Fahrkarten, sondern auch Erzählungen. Bernd Holtwick, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums, hat so schon viele Geschichten zu hören bekommen - und aufgezeichnet: "Berichte der Zeitzeugen sind genauso wichtig wie Objekte von früher."
250 000 Menschen gingen am 22. Oktober 1983 auf die Straßen zwischen Neu-Ulm und Stuttgart, Hand in Hand wurde an dem sonnigen und kalten Samstag auf 108 Kilometern gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen im Land protestiert.
Die Teilnehmer, die jetzt ihre Erlebnisse erzählen, blicken alle positiv zurück. "Dass die Kette geschlossen wurde, das war einfach ein Riesenerfolg." Dass so viele dabei waren, alles friedlich blieb bis auf ein paar Rangeleien mit der Polizei, das sei bis heute präsent und den Leuten wichtig, hat Holtwick erfahren. Mit Kind und Kegel pilgerte man zur Demo.

Familie Winkler aus Stuttgart reihte sich mit ihrem drei Jahre alten Sohn in Untertürkheim ein. Jetzt brachte sie ein Foto mit der Familie bei der Menschenkette ins Haus der Geschichte mit - und auch den erwachsenen Filius.

Der Freundin wegen dabei

Fröhlich seis gewesen, berichteten alle, "eine charmante Aktion". "Nur wegen seiner damaligen Dame" habe er mitgemacht, erzählt einer, eigentlich sei er ja 1983 in der Jungen Union gewesen. Nicht typisch wahrscheinlich, die meisten trieb die Angst vor dem Atomkrieg, der Wunsch nach Frieden. Zeitschriften vom Ereignis bringen die Leute mit, auch eines der Bänder, die dazu dienen sollten, Lücken in der Kette zu schließen. Gebraucht wurden sie nicht, es kamen ja genug Leute. Aufgehoben wurde das Band trotzdem
bis heute.

Die tolle Stimmung wurde kaum getrübt durch die Zerrissenheit im Land vor 21 Jahren. Viele waren ganz anderer Meinung als die Friedensbewegten, befürworteten die Raketen als sicheren Schutzschirm gegen die Russen. Und Demonstrationen waren im Schwäbischen auch nicht alltäglich.
"Das tut man nicht", die Meinung war weitverbreitet. Protestierer haben das zu spüren bekommen. In einem Dorf bei Albstadt seien "Türen und Fenster verrammelt gewesen", die braven Bewohner erwarteten Steinewerfer wie im Fernsehen.
Wenig beruhigend, bekam Holtwick zu hören, seien auch Demo-Ordner gewesen. Der Motorradklub "Kuhle Wampe" hatte das in einem Abschnitt übernommen. In zünftiger Kradfahrermontur natürlich. <BR>&nbsp;<BR>Gruppenerlebnis, fröhlicher Treff - das zählt bis heute, nicht die Fruchtlosigkeit des Protests: Der Bundestag stimmte Wochen nach dem Massenprotest für die Stationierung, die Pershing-Sprengköpfe kamen. "Aber die Menschenkette hat gestanden, das zählt" - noch immer, in der Erinnerung. Auch Polizisten, die damals im Einsatz waren, kamen schon vorbei und erzählten Holtwick vom Einsatz. Das
Misstrauen sei groß gewesen, Arbeitspensum und Aufwand ebenfalls. Riesig sei dann die Erleichterung gewesen, als es friedlich blieb.

"Erstaunlich, wie präsent die Menschenkette noch ist", meint Holtwick (36). Nicht nur in den Köpfen, auch auf Dachböden und in Schubladen. Beim Sammeln der Schaustücke war das nützlich. Viel Hilfe kam von der Friedenshütte in Mutlangen, am früheren Raketenstützpunkt. Schwieriger habe sich das Sammeln bei der "Gegenseite" gestaltet, bei der Polizei, den US-Soldaten. Die vielen Zeitzeugnisse sind noch bis 3. Oktober zu bestaunen.

INFO
Die Sonderausstellung Zerreißprobe Frieden - Baden-Württemberg und der Nato-Doppelbeschluss im Haus der Geschichte in Stuttgart (Konrad-Adenauer-Str. 16) ist täglich - außer montags - von 10 bis 18 Uhr geöffnet, donnerstags bis 21 Uhr. Bis kommenden Sonntag haben Beteiligte an der Menschenkette von 1983 freien Eintritt: Demonstranten, ausdrücklich aber auch Polizisten, Sanitäter oder Stadt- und Dorfbewohner, die die Demonstration hautnah verfolgten.

Bild: Friedensdemonstranten auf der Alb.
An der Menschenkette im Oktober 1983 beteiligten sich
schätzungsweise 250 000 Leute.
FOTO: MANFRED GROHE

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