Stuttgarter Zeitung 27.1.2009
STUTTGART. Am 27. Januar wird in Deutschland der Naziopfer gedacht.
Erwin Holzwarth hat zu den Männern gehört, die Hitler 7933
bei seiner Rede in Stuttgart das Wort abgeschnitten haben. Nur mit Glück
entging er dem Todeslager. Im vergangenen Jahr ist er gestorben.
Er hat mit seinem Söhnen nie darüber geredet. Sein Schweigen
war auch ein Schweigen über die Folter, die Verhaftung, die ständige
Angst. Er hat seinen beiden Kindern nicht einmal von seiner größten
Tat erzählt, einfach weil sie ihm in seiner politischen Arbeit
während des Dritten Reiches zu unbedeutend erschien. Erwin Holzwarth
stand Schmiere beim Stuttgarter Kabelattentat.
Als Auftakt für die Reichstagswahl hatte Adolf Hitler am 15. Februar
1933 eine Großkundgebung in Stuttgart organisieren lassen. Bei
der Wahlkampfveranstaltung schickte sich Adolf Hitler an, öffentlich
zu sprechen. Doch an diesem Tag waren die Straßen nicht nur von
Anhängern des Redners voll. Die Kommunisten hatten beschlossen,
die Radioübertragung der Rede zu stören. Mit dabei war der
gerade 21-jährige Erwin Holzwarth.
Das Übertragungskabel verlief in vier Meter Höhe, unter
anderem durch die Werderstraße. Wilhelm Breuninger, Alfred Däuble,
Hermann Medinger und Eduard Weinzierl hatten sich verabredet und stiegen über
einen Zaun. „Ein paar von uns haben sich mit der SA gebalgt,
während Däuble das Kabel durchhackte", sagt Holzwarth
später in einem Interview. „Wir als Begleitschutz sind hin
und her gelaufen, aber wir brauchten nicht einzugreifen." Gegen
20 Uhr war die Leitung tot und der Redner Adolf Hitler blamiert. Wenig
später begann die Gestapo zu ermitteln.
Wenige Wochen nach dem Anschlag wird er verhaftet
Erwin Holzwarth wurde 1912 geboren und wuchs in Stuttgart auf, der
Vater stammte aus dem Remstal und die Mutter von der Alb. Der Vater
musste seine Bäckerei in Stuttgart-Wangen aufgeben, als er in
den Ersten Weltkrieg eingezogen wurde. Nach dem Krieg fasste er nicht
mehr Fuß und schlug sich als Hilfsarbeiter beim Daimler durch.
Er konnte die sechs Kinder kaum durchfüttern. Sie hausten in Untertürkheim
in einer Dreizimmerwohnung: Erwin musste mit seinem Bruder auf der
Bühne schlafen, damit die beiden Schwestern ein eigenes Zimmer
hatten. Ohne die Lebensmittellieferungen der Verwandtschaft wäre
die Familie nicht über die Runden gekommen.
Wie sein Vater wurde auch Erwin Holzwarth bald Gewerkschafter. Und
wie sein Vater arbeitete er auch in der Industrie. Mit 16 trat er aus
der Kirche aus, mit 18 besuchte er die marxistische Arbeiterschule
in Stuttgart. Er lernte, dass man sich selbst engagieren muss, die
Politik nicht anderen überlassen darf. Willi Bohn, ein führender
Stuttgarter Marxist, hat ihn politisch geprägt. Und der Pfarrer
Erwin Eckert, der sich als Christ dem Kommunismus zuwandte. Als der
Pfarrer 1931 in der Stuttgarter Stadthalle sprach, trat Holzwarth in
die Kommunistische Partie ein. Der damals 19-Jährige wollte die
Nazidiktatur unter allen Umständen verhindern.
Seine Lebensgeschichte hat Erwin Holzwarth 1999 in einem Video-Interview
hinterlassen, das Mitarbeiter der Steven-Spielberg-Stiftung bei ihrer
Recherche zur Holocaust-Geschichte geführt haben. Das fast dreistündige
Interview ist ein fesselndes Dokument des Stuttgarter Widerstands.
Es enthält auch die schlichte Wahrheit eines Arbeiters: „Bevor
ich im Krieg umkomme, werde ich versuchen, ihn zu verhindern",
sagt Holzwarth. Von seinen Klassenkameraden sind mehr als die Hälfte
im Krieg geblieben. Er hat überlebt.
Schon im März 1933, wenige Wochen nach dem Kabelattentat, wurde
er verhaftet und saß im Polizeigefängnis in der Stuttgarter
Büchsenstraße. Anfang April kam er ins Konzentrationslager
auf den Heuberg. Nach zehn Monaten wurde er entlassen, musste sich
alle drei Tage bei der Polizei melden. Er unterschrieb, dass er nichts
mehr gegen das Dritte Reich unternehmen werde. Doch Erwin Holzwarth
hatte auf dem Heuberg gesehen, wie die SA für den Krieg ausgebildet
worden ist. Für ihn war klar: er musste handeln.
Die Widerstandsgruppe, der er sich anschloss, hieß „Neckarland".
Zu ihr gehörten etwa hundert Arbeiter aus den Stuttgarter Neckarvororten.
Sie hatten eine Schreibmaschine und einen Hektografierapparat in einem
Keller versteckt, dort druckten sie Flugblätter. Sie verteilten
Informationen über die Kriegsvorbereitungen Hitlers, die sie aus
der Schweiz per Kurier erhielten, und sie warnten vor den Nazispitzeln,
die in den Blocks lebten. Gleichzeitig sammelten sie Geld, um die Familien
von Verhafteten zu unterstützen.
Als es zu riskant wurde, Flugblätter in Briefkästen zu stecken,
legte die Widerstandsgruppe die Flugblätter in große Obstkörbe
und brachte darunter eine kleine Sprengladung an. Einen der Sprengkörbe
zündete Erwin Holzwarth am Stuttgarter Hauptbahnhof. Ein Kampf
Davids gegen Goliath, mit einem Unterschied: David unterlag.
Führend im süddeutschen Widerstand waren Alfons und Eugen
Wicker, ehemalige Mitarbeiter des Abwehrapparates der Kommunistischen
Partei. Was keiner ahnte: sie waren Doppelagenten und arbeiteten zugleich
für die Gestapo. Durch die Hinweise der Verräter wurden alle
Widerstandskämpfer in Süddeutschland verhaftet. Holzwarth
versuchte, sich noch in die Schweiz abzusetzen, doch die Gestapo war
schneller. 1938 wurde er zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Bei der
Urteilsverkündung waren nur die nächsten Angehörigen
zugelassen. „Ich hatte Glück gehabt, dass ich nicht zum
Tode verurteilt wurde", sagt Holzwarth in dem Interview. Ein zweifelhaftes
Glück: sämtliche Häftlinge wurden später in Nazivernichtungslager überstellt.
Holzwarth saß im Ludwigsburger Zuchthaus in Einzelhaft. Ein
Pfarrer besorgte ihm ein Russischlehrbuch, und er vertrieb sich die
Zeit damit, Vokabeln zu pauken. Alle drei Monate durfte er Besuch empfangen.
Die Häftlinge verständigten sich durch Klopfzeichen, wofür
er sich vier Wochen Dunkelhaft einhandelte: „Ja nun, das musste
man halt durchstehen", sagte er schlicht.
Im Jahr 1939 verlegte man ihn ins Moorlager nach Aschendorf im Emsland,
wo er in der Gärtnerei Arbeit bekam. Er blieb ein Kämpfer.
Seine Mithäftlinge im Lager versorgte er mit neuesten Nachrichten,
die er in verbotenen Rundfunksendern gehört hatte. Schließlich
kam er zurück nach Ludwigsburg. Immer wieder musste er dort in
Isolationshaft und wurde von der Gestapo bedroht. Nur an einem Tag
waren die Leute im Gefängnis respektvoll zu ihm. Das war am 20.
Juli 1944, nach dem Hitlerattentat. Für ein paar Stunden war nicht
klar, ob die damaligen politischen Gefangenen nicht die neuen Machthaber
werden würden, und da haben sie ihn behandelt wie ein rohes Ei.
An diesem Tag erfuhr er auch, dass er ins KZ Mauthausen verlegt werden
sollte, in ein Vernichtungslager. Das sichere Todesurteil.
Doch es sollte anders kommen. Im September 1944, beim großen
Luftangriff auf den Stuttgarter Westen, war der Häftling Holzwarth
in der Büchsenstraße untergebracht und wartete auf den Abtransport
ins Todeslager. „Plötzlich tut es einen Schlag, und dann
war ich mit 150 Mann im Keller verschüttet", erzählt
er. Sie wurden ausgegraben und mussten auf dem Karlsplatz antreten.
Beim nächsten Luftangriff flüchteten die Häftlinge in
das Neue Schloss, von dem aber nur noch die Umfassungsmauer stand.
Erwin Holzwarth musste austreten, meldete sich ordnungsgemäß ab
und ging auf den Lokus in der Hausmeisterruine. Er kehrte aber nicht
in den Keller zurück, sondern floh, während die Bomben fielen,
nach Untertürkheim. Zunächst versteckte er sich in den Gipssteinbrüchen,
dann ging er zu seiner Mutter.
Ihm gelingt die Flucht über die Schweizer Grenze
Noch immer waren Widerstandsgruppen in Stuttgart aktiv, inzwischen
gab es eine Gruppe Esslingen-Göppingen. Sie besorgte ihm Papiere
und machte ihn zum Monteur. Bei Bosch fand er eine Arbeit. Als Monteur
hatte er einen entscheidenden Vorteil, er konnte reisen. Er traf sich
mit einem Kollegen von den Schweizer Aluminiumwerken, der ihm über
die Grenze helfen sollte. Holzwarth radelte nach Singen. Er wartete
die Nacht ab, robbte unter einem Stacheldraht durch, watete durch einen
Bach und kam so schließlich glücklich über die Grenze.
Hilfesuchend wandte er sich an eine Schweizer Familie, dummerweise
geriet er in das Haus eines Schweizer Grenzers, der ihn verhaftete.
Doch ein Redakteur der Schaffhauser Arbeiterzeitung bürgte für
ihn. Er bekam Asyl.
So überlebte Holzwarth den Krieg. Im Sommer 1945 kehrte er nach
Stuttgart zurück. Er fand eine Arbeitsstelle - und wieder wurde
er bespitzelt. Rechtzeitig bevor der Verfassungsschutz seinem Chef
mitteilte, dass Holzwarth Kommunist sei, war er aber bereits zum Betriebsratsvorsitzenden
gewählt worden. So konnte man ihm nicht mehr kündigen. Als
die KPD in Deutschland verboten wurde, legte Holzwarth alle seine Parteiämter
nieder. Die Zeit des Kampfes war für ihn vorbei. Er kaufte ein
zerbombtes Haus, baute es auf und gründete eine Familie.
Der Mann, der so lange schwieg, hat in dem Spielberg-Interview eine
Art Vermächtnis hinterlassen. „Handle immer so, dass du
würdig wirst, glücklich zu sein", sagte er nach Immanuel
Kant. Und als ihn die Interviewerin nach seiner Ansicht zur Weltpolitik
fragte, antwortete er: „Der amerikanische Imperialismus kann
die Probleme der Welt nicht lösen." Das war vor zehn Jahren.
Bis ins hohe Alter war er rüstig - und gesellschaftlich engagiert.
Holzwarth begleitete die alternativen Stuttgarter Stadtrundfahrten,
diskutierte mit Schülern über das Dritte Reich und den Widerstand
gegen die Faschisten. Als er dement wurde, pflegte ihn die Schwieger- tochter.
Bis zuletzt. Seine Söhne waren bei ihm, als es im September
vergangenen Jahres zu Ende ging. Er ist unruhig geworden, dann haben
sie an seinem Bett gesessen und gewartet, bis das tapfere Herz des
letzten Stuttgarter Widerstands- kämpfers zu schlagen aufhörte.
Erwin Holzwarth wurde in Untertürkheim beigesetzt.
Nach dem Krieg wird Erwin Holzwarth offiziell als Opfer des Naziterrors
anerkannt.
„Politische Aktivitäten gegen
den Nazismus“
Ausweis von Erwin Holzwarth vom September 1945