Der 23-jährige Flugpionier Ernst Heinkel überlebte den Absturz mit seinem selbst konstruierten Doppeldecker auf dem Wasen
nur knapp -
Von Andrea Eisenmann
Stuttgart - Am 19. Juli 1911 wird Franz Stocka für kurze Zeit zum Helden. Denn bei dem jungen Mann, den der Arbeiter aus einem abgestürzten Flugzeug zieht, handelt es sich um keinen geringeren als Ernst Heinkel, der später in Deutschland Fluggeschichte schreiben wird. Gemeinsam mit einem Polizisten schleppt Stocka den bewusstlosen Piloten zu einem Auto und ermöglicht so dem Schwerverletzten seine spätere Karriere.
Die Liebe zur Fliegerei beginnt bei Ernst Heinkel in jungen Jahren. Ingenieur lautete der Berufswunsch. In einer Erzgießerei holte er sich Praxis bei einem Praktikum, später studierte er an der Technischen Hochschule Stuttgart. Er gehört der Burschenschaft Ghibellinia an, von deren Mitglieder der schmächtige Student wegen seiner Trinkfreudigkeit den Spitznamen „Fläschle“ verpasst bekommt. Als am 5. August 1908 in Echterdingen das Zeppelin-Luftschiff LZ 4 von einer Gewitterböe erfasst wird, gehört Heinkel zu den rund 50 000 Zuschauern, die sich auf den Feldern versammelt haben. „Mir Zwanzigjährigem war die Zunge gelähmt vor Entsetzen“, wird er später schreiben. Und dennoch wird das Unglück zu einem Wendepunkt im Leben. Statt Wein und Frauen bestimmt nun der Flugzeugbau seinen Alltag. In ausländischen Illustrierten studiert er die Beschreibungen bereits konstruierter Maschinen. Auch der ersten internationalen Luftfahrtausstellung in Frankfurt stattet er einen Besuch ab - nachdem er eines seiner wertvollen Bücher versetzt hat, um die Reise zu finanzieren.
Das Selbststudium hat sich dennoch gelohnt, ein Jahr später entwirft Heinkel am Reißbrett sein erstes eigenes Flugzeug nach den Planvorlagen des Franzosen Henri Farman. Es bleibt nicht bei dem Modell. Der Tüftler lernt einen Mechanikermeister kennen, der ihm einen leeren Raum über seiner Werkstatt zur Verfügung stellt. Um sich das teure Baumaterial leisten zu können, nimmt er einen Kredit auf. Allerdings: Allein für den Motor wären mehrere Tausend Mark notwendig gewesen. Alternativ dazu tut es zunächst ein Bootsmotor mit 22 PS, den ihm ein Bekannter besorgt. Und ein weiteres Mal hat er Glück: Heinkel lernt einen Landtagsabgeordneten kennen, der ihm die ehemalige Reithalle der Dragonerkaserne kauft, die auf dem Wasen als Flugzeugschuppen aufgestellt wird.
Von nun an werkelt Heinkel Tag und Nacht. Die ersten Flugversuche auf dem Cannstatter Wasen erfolgen - zunächst jedoch erfolglos. Das Flugzeug ist so schwer, dass es nicht abhebt. Erst als der Doppeldecker einen 50 PS-Motor erhält, geht er in die Luft. Immerhin zehn Meter sind es im Mai 1911. Von da an startet Heinkel fast täglich mit seiner Maschine. Für seine Bemühungen wird er nicht selten mit durchgebogenem Gestänge „belohnt“.
Ernst Heinkel als Student der Technischen Hochschule in Stuttgart. Foto aus „Ernst Heinkel - Pionier der Schnellflugzeuge“, Bernard & Graefe Verlag, 1999
Am 19. Juli 1911 geht der 23-Jährige erneut in die Luft. Er hat an diesem Tag kein gutes Gefühl im Bauch, eine „dunkle Ahnung“ habe ihn befallen, sagt er später. Nach kurzer Zeit ist der Doppeldecker 40 Meter hoch, das Flugzeug nimmt Kurs auf Untertürkheim. Eine Rechtskurve wird ihm zum Verhängnis. Es gelingt dem jungen Flugpionier nicht mehr, die Maschine wieder in eine horizontale Lage zu bringen. Das Flugzeug dreht sich immer weiter in Richtung Erde Als es auf dem Boden aufschlägt, hat Heinkel bereits das Bewusstsein verloren. Stocka, der Daimler-Arbeiter, zerrt den Bruchpiloten aus den Trümmern und schleppt ihn rechtzeitig zur Seite, bevor der Benzintank explodiert. Um Heinkels Leben zu retten, gibt es für die Ärzte allerhand zu tun. Über den ganzen Kopf hat er einen Bluterguss, das Schädeldach ist ebenso wie der Ober- und Unterkiefer gebrochen, er blutet aus Nase und Ohren. Auch leichte Verbrennungen kennzeichnen sein Gesicht. Der linke Oberschenkel ist ebenso gebrochen wie ein Finger der rechten Hand. Sechs Wochen dauert es, bis er das Krankenhaus in Cannstatt wieder verlassen darf. Zuhause erwartet ihn aber lediglich ein riesiger Schuldenberg.
Mit der Selbstständigkeit ist von nun an Schluss. Der 23-Jährige nimmt eine Stelle bei einem Flugzeugwerk an, wo er zunächst Chefkonstrukteur, später technischer Direktor wird. 1922 gründet er sein eigenes Flugzeugwerk in Warnemünde. 500 Maschinen wird er in den folgenden Jahrzehnten entwerfen, die Mehrzahl davon weist das Kürzel „He“ vor ihrer Kennziffer auf. Während des Zweiten Weltkriegs - der Blütephase des Unternehmens - sind in den Niederlassungen und Hauptwerken der Flugzeugfabrik bis zu 50 000 Personen tätig - darunter viele Zwangsarbeiter und Häftlinge aus Konzentrationslagern. Nach dem Krieg wird das Werk geschlossen und größtenteils demontiert. Ernst Heinkel bleibt nur das Werk im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen, das er 1950 wieder eröffnen kann. 1958 stirbt er im Alter von 70 Jahren - sechs Tage nach seinem Geburtstag.
Dass es nach 1911 kaum Fotos gibt, die Ernst Heinkel in Flugzeugen zeigen, liegt übrigens an seinem damaligen Absturz. Fortan sei er nur noch geflogen, wenn es unumgänglich war - und dabei habe er dann „kalten Schweiß auf der Stirn“ gehabt.