Einer geht immer noch: Simone Richter und Michael Steinert (Fotos) haben an der Strümpfelbacher Straße in Untertürkheim Schnaps gebrannt
Schnaps gibt's in diesem Haus,
als würd' er hier gebrannt.
Rainer Werner Fassbinder,
Bremer Freiheit
Weit und breit keine Schnapsleichen. Nur ein Ufo und jede Menge Fruchtfliegen bevölkern die Städtische Brennerei. Dazu ein Meister, der keiner ist und auch keinen Klaren trinkt - dafür aber viele schöne Geschichten erzählen kann.
Gluckernd und klopfend entweicht der Brei, fließt vom Rohr in den Trichter und verwandelt den gekachelten Raum in einen überdimensionalen Kompott-Kochtopf. Die Luft ist stickig, es dampft und brodelt. Die Maische, die in die Kanalisation rinnt, riecht penetrant süßlich nach Obst und Säure. Der stechende Nebel zwickt in der Nase, schleicht die Luftröhre entlang, schnürt den Hals zu. Dann verkrampft sich der Magen. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorüber. Aus der Wolke steigt eine grün gekleidete Gestalt, wirft eine Pumpe an und ruft laut: "Besoffen wird von der Luft keiner - sonst wär's bei mir immer voll."
Das ist Robert Munk. Seit 33 Jahren arbeitet er von November bis Februar als Betriebsleiter und Brennmeister in der Städtischen Brennerei in Untertürkheim. "Einen Meisterbrief besitze ich nicht." Von seinem Vater hat er das Handwerk gelernt und das Schnapsmachen abgeschaut.
Im Lager stehen blaue Plastikfässer wie dicke Soldaten in drei Reihen. Darin lagert die Maische, der Grundstoff des Branntweins. Obenauf schwimmt die rosa Flüssigkeit der Aprikosen, Birnen und Äpfel. Bei Zwetschgen ist sie schwarzblau wie Tinte. Unten am Grund schlummert die Masse aus Fruchtstücken und Obstkernen. Gerade entriegelt Harry Stobinski mit einem leisen Zischen sein Fass. Der Hobbygärtner ist einer von 130 Kunden. "Im Oktober habe ich Zwetschgen und Mirabellen angesetzt. Das muss jetzt weg, damit der Fruchtgeschmack bleibt", erklärt der Esslinger. Das Obst hat er mit Hefe versetzt. "Am besten wird die Maische aus Fallobst, das acht bis zwölf Wochen gärt." Er taucht den Zeigefinger in das Gebräu, rührt herum, schnüffelt, leckt den Finger ab, schmatzt und macht ein zufriedenes Gesicht.
Seit 1905 existiert die Brennerei in der Strümpfelbacher Straße 38. Es ist die einzige städtische Einrichtung neben den 28 Privat- brennereien. Die Lizenz erhielt die Stadt nach der Eingemeindung von Untertürkheim. Aus den längst vergangenen Tagen stammt auch die alte Blechtafel hinter der Tür, die ungenutzt etwas verloren wirkt. Früher, so weiß Munk, wurde darauf mit Kreide Stoffbesitzer und Brenntage notiert.
Auf dem Tisch in der Ecke stehen drei Schnapsgläser und zwei Schnapsflaschen. Auf der Bank mit dem putzigen Herzchen-Bezug warten die Kunden auf ihren Schnaps, packen ihr Vesper aus und tratschen mit dem Hausherrn. Handwerker, Straßenkehrer und Müllfahrer seien früher regelmäßig eingekehrt, erzählt der. "Die haben die Kutschen abgestellt, was getrunken und sich von den Pferden nach Hause bringen lassen." Jetzt kommt nur noch der Schornsteinfeger Martin Bauer. Am zylinderförmigen Heizkessel, der eine Haut aus gesprenkeltem Edelstahl trägt, hantiert er fleißig herum. Der Gasbrenner erwärmt mit Dampf die Brennblase, in der die Maische kocht. "Schlechten Schnaps gibt's in meinem Bezirk nicht", sagt er stolz und lässt sich noch einen einschenken.
Plötzlich bewegt sich der rote Plastikschlauch im Flur wie ein Rüssel: Mit saugenden und schlürfenden Geräuschen wird die Maische aus den Fässern in den weit geöffneten Schlund eines Ungeheuers gepumpt - das also ist die Brennblase mit ihrem kupfernen, kugeligen Blähbauch. Ein Stahlgürtel und drei Betonfüße tragen das Gebilde, das 416 Liter fasst. Es wirkt wie ein gestrandetes Ufo, umgeben von Rohren und Kurbeln, Rädern und Schrauben. "Als Kind saß ich auf dem Kessel und habe mich gewärmt", schwelgt Munk in der Erinnerung. Bis vor 37 Jahren wurde noch mit Holz befeuert - daran erinnert sich auch Helmut Breitinger: "Ich musste als Bub mit dem Leiterwagen das Holz zum Brennen aus Wangen ankarren." Heute hat er 350 Liter Maische zum Schnapsen gebracht. Einen Großteil des Branntweins verschenkt er an Verwandte und Bekannte, "denn die Leute haben ja alles, aber dieser Brand ist was Besonderes." Im Sommer trinke er den Klaren im Sprudel, "und ein Stück Schokolade mit einem Schluck Schnaps ist besser als jede gekaufte Praline".
In dem überhitzten Zimmer, in dem der Gasbrenner steht, hat sich Munk sein Büro eingerichtet: Auf dem Stehpult liegen Stempel und vergilbte Zettel, auf denen handschriftlich alles eingetragen wird. Wer sich bei ihm anmeldet, bekommt einen Terminzettel wie beim Zahnarzt. "Ich reiche die Angaben beim Hauptzollamt ein, und nach einer Woche kommt die Brenngenehmigung", erklärt Munk und zeigt das Formular, an dem ein Überweisungsschein für die Steuer hängt. Für jeden Liter Alkohol kassiert der Staat 20 Mark. Der Außendienst der Zollbehörde kontrolliert und überwacht das Prozedere. Vielbrenner können die Steuern auch in Schnaps bezahlen. "Der Schnaps ist hochwertig und zum Verkaufen viel zu wertvoll", erklärt der Untertürkheimer Erich Ogger. "Es ist mein eigenes Erzeugnis, und ich weiß, dass ungespritztes Obst drin ist. Denn die paar Würmle machen dem Schnaps nichts aus."
Der Brennmeister verschließt die Öffnung der Brennblase: Wie in einem U-Boot schraubt er den Eisendeckel mit einem Rad fest. In Cannstatt gab es einst eine Brennerei, so erzählen die Schnapstrinker, "da musste man vor dem Ofentürle sitzen". Der Destillateur betrieb nebenbei ein Wirtshaus - und zapfte zur Verköstigung der Gäste heimlich Schnaps ab. An den alten Geschichten entzündet sich eine Diskussion über das Schwarzbrennen: Ein Liter, fünf Liter - wie viel darf man privat brennen? Nichts, erklärt das Zollamt; die Herstellung daheim ist verboten, nur die Veredelung legal.
Hinter den Bullaugen am Brenner wirft die Maische Blasen, und weiter oben funkeln Myriaden von Sternen: Bei 78 Grad Celsius verdampft das Äthanol und verschwindet durch das Geistrohr in den Kühler. Nur das niederprozentige Destillat regnet zurück. Für einen Liter Obstler braucht es acht bis zehn Kilogramm Früchte. Steine, Stengel und Haut kochen mit - das macht das Aroma, sagen die Kenner. Keine Bedenken wegen der Blausäure? Munk beruhigt: "Wie viel Liter muss einer trinken, bis er durch Blausäure vergiftet ist? Davor hat der eine Alkoholvergiftung!" Ein wenig erinnert dieser Zynismus an Udo Jürgens, der singt: "Der Teufel hat den Schnaps gemacht, um uns zu verderben."
Aus dem vergitterten Fußboden entsteigt Dampf wie ein schüchternes Gespenst auf der Suche nach einem edlen Tröpfchen. Ein fester Strahl spritzt aus dem Edelstahltank, in dem der Weingeist kühlt und kondensiert. Die flüssige Köstlichkeit wird in der Alukanne zu einem silbrigen See aus Alkohol. An der Endstation des Brennens verscheucht der Meister die Fruchtfliegen und setzt die Alkoholspindel in das Wässerchen, um an der Skala den Wert zu messen. "Wer möchte kosten?", fragt Munk lächelnd und nimmt eine Schachtel Würfelzucker vom Fenstersims. Das weiße Stück saugt die fruchtig duftende Flüssigkeit auf, der Schnaps prickelt auf der Zunge, reibt am Gaumen. 80 Prozent hat der frische Brand, mit demineralisiertem Wasser wird er auf 40 bis 50 Prozent verdünnt. Manchmal, so erzählt Munk mit einem Grinsen, offeriere er den Hochprozentigen einem Besucher. "Das ist ein guter Scherz. Denn wer 80 Prozent trinkt, dem bleibt mal kurz die Luft weg."
Wenn andere die Spirituosen versuchen, schaut Munk nur zu: "Ich trinke ganz selten einen Klaren, ich mag das nicht besonders." Bei 1500 Litern verarbeiteter Obstmaische und sieben Bränden pro Tag habe er sich das Probieren abgewöhnt. "Ich schlotze lieber ein Viertele", erklärt der hauptberufliche Weingärtner. Anders erging es einem Polizisten, der auf dem Weg auf den Rotenberg zum Umtrunk kam. "Weil er zum Bus rannte und dabei aufstieß, roch man das ganz schön. In der Stadt hieß es dann, der Büttel sei besoffen." Noch während Munk erzählt, schüttet er konzentriert den Edelbrand in eine bauchige Korbflasche: ein letztes Wirbeln und Gurgeln im Trichter, dann wird der Schnapsgeist verkorkt. Mindestens ein Jahr soll das Getränk lagern - je länger es steht, desto besser wird es. "Das ist genau andersherum als bei den Frauen", scherzen die Schnaps-Fans. Ein Kunde hat sogar einen 22 Jahre alten Schnaps im Keller. Da kommt Munk dann doch ins Grübeln: "So gesehen ist eine 22-jährige Frau ja auch nicht zu verachten, oder?"